14. März 2023
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Warum bist du eigentlich immer so still?

Die 16-jährige Linda galt immer schon als braves, ruhiges Mädchen. Sie liebt es zu lesen und auf ihrem Cello zu spielen. Sie geht erfolgreich ihren Weg in der Schule. Und sie mag es, mit Menschen zu sein. Besonders genießt sie die Atmosphäre inmitten familiärer Feste.

Auf der Familienfeier

So sitzt Linda eines Tages wieder einmal im Kreis ihrer Familie. Diesmal in einer großen Runde, mit Großeltern, Tanten und Onkeln, Cousins und Cousinen. Linda genießt das lustige Treiben und die fröhliche Ausgelassenheit rund um sich herum. Sie lauscht gespannt den Worten, Witzen und Sprachspielereien ihrer Verwandten. Linda fühlt sich wohl dabei. Bis Benno – ein sprachfertiger Wiffzack, der ohne Punkt und Komma redet, die Aufmerksamkeit in der Runde genießt und auf einer Smalltalk-Weltmeisterschaft gute Gewinnchancen hätte – Linda plötzlich sein Gesicht zudreht und ihr vor versammeltem Publikum die Frage hinknallt: „Bist du immer so still?“

Unbehagliche Gefühle

Linda spürt wie ihr der Atem stockt. Gleich darauf wird ihr ganz heiß. Sie knetet ihre Hände unter der Tischplatte. Dann merkt sie, wie sie im Kopf keine Gedanken und keine Worte mehr findet, geschweige denn irgendeinen zusammenhängenden Satz, den sie als Antwort aus ihrem Mund herausbringen könnte.

Total unangenehme Gefühle bereitet ihr das, was da gerade eben geschehen ist. Linda fühlt sich völlig sprachlos, lässt sich jedoch nichts anmerken. Ihr Lächeln – immer noch da – maskiert ihre wahre Befindlichkeit, sodass sie schließlich selber kaum noch merkt, wie sehr das Gesagte sie getroffen hat. Und auch die anderen scheinen nichts von Lindas unangenehmen Gefühlen zu bemerken. Sie lachen und schwatzen in ihrer Unbekümmertheit weiter, so als wäre niemandem aufgefallen, was der Cousin da gerade mit seinem Sager angerichtet hat.

Einige Stunden später

Spätabends zu Hause angekommen, taucht in Lindas Kopf der Satz ihres Cousins wieder auf. Und mit ihm die ganzen unterdrückten Gefühle der Kränkung und Verunsicherung. Gleich darauf steigen Ohnmacht und Wut in Linda hoch. Dann wird ihr klar, dass ihr Cousin sie in seinem Hochgefühl vor der versammelten Verwandtschaftsmannschaft ganz schön in Verlegenheit gebracht hat. Vor ihrem inneren Auge sieht sie sich selbst wie in einem Film, wie sie umringt von den Blicken der Anderen dasitzt und sich sprach- und hilflos fühlt. Und im nächsten Moment rattern bereits zahlreiche andere Situationen durch Lindas Kopf. Situationen, in denen sie sich jedes Mal angegriffen und vor anderen bloßgestellt gefühlt hat. Denn was ihr Cousin kann, das kann auch manch einer ihrer Klassenkameraden in der Schule. Dieses nie um einen Witz oder lockeren Spruch verlegen sein, ungeachtet dessen, ob andere sich dadurch gekränkt fühlen.

Lindas Gedanken machen sie immer mutloser. Sie verzweifelt immer mehr, bis sie schließlich innehält und sich seufzend fragt: „Wie kann sich das jemals ändern?“

Im Selbstbewusst-Sensibel-Coaching

Zwei Wochen ist das nun her. Nun sitzt Linda bei mir in der Praxis und erzählt. Sie hält auf jede meiner Fragen bedächtig inne, so als würde sie in ihrem Inneren nach einer stimmigen Antwort suchen, bevor sie diese ausspricht. Schließlich stellt Linda die Frage in den Raum: „Was kann ich tun, damit mir so etwas nicht mehr passiert? Mir ist das so unangenehm. Ich weiß jedes Mal nicht, was ich dann sagen soll!?“

Beim näheren Nachfragen stellt sich heraus: Linda will schlagfertiger werden. Sie stellt sich vor, dass alles anders wäre, dass ihr all die unangenehmen Situationen erspart blieben, wenn sie nur mehr so wäre wie sie – die wortreichen Redner, die rhetorisch Gewieften und flinkzüngigen Small-Talker. Linda will also wirklich so werden wie sie. Sie, die immer einen coolen Spruch auf Lager haben. Sie, die ungeniert kontern. Sie, die schlagfertig zum Gegenangriff ausholen. So stellt sich Linda die Lösung ihres Problems vor. Sie will nicht mehr länger so sein wie sie ist. Still. Ruhig. Bedacht.

In meinem eigenen Inneren taucht eine leise Stimme auf, die mich vorsichtig fragt: „Warum muss Linda eine Andere werden? Aus einem Hasen soll doch auch kein Elefant werden!

Ich steh zu mir

Ich stelle mir vor, Linda mit inneren Schutzschildern und rhetorischem Rüstzeug auszustatten, damit sie ihre Sensibilität bewahren und dennoch in Zukunft mit solchen Bemerkungen auch im Außen souverän umgehen kann. Linda findet Gefallen an meiner Idee. Nachdem wir uns gemeinsam ihren verletzten Gefühlen und inneren Regungen zugewendet haben, suchen wir Lindas Gedanken auf und formen Schutzsätze, mit denen sie sich wohl fühlt. Sätze, die zu Linda und ihrem sensiblen Naturell passen. Sätze, mit denen sie beruhigt – weil gut gerüstet – zum nächsten Familienfest gehen kann. Sätze, die Linda ein Gefühl von Sicherheit geben. Und wir finden ein ganzes Arsenal für solche für sie so unangenehme Situationen.

„Ich steh zu mir.“, so lautet unser Motto. Linda sucht sich einige für sie stimmige Sätze aus den Sätze-Schätzen aus und nimmt sich vor, diese bei künftigen Gelegenheiten auszuprobieren. Sie stellt sich solche Situationen vor und wir üben diese Sätze in unserer Stunde, sodass sie ihr irgendwann ganz leicht über die Lippen kommen.

Souverän und selbstbewusst

Lindas Lieblingsvorstellung: Linda sitzt – wieder einmal – im Kreis ihrer Familie. Diesmal wieder in einer großen Runde mit Großeltern, Tanten und Onkeln, Cousins und Cousinen. Sie genießt das lustige Treiben und die fröhliche Ausgelassenheit rund um sich herum. Sie lauscht den Worten, Witzen und Sprachspielereien ihrer Verwandten. Linda fühlt sich wohl dabei. Bis einer wie Benno Linda plötzlich sein Gesicht zudreht und ihr vor versammelter Verwandtschaftsmannschaft die Frage hinknallt: „Bist du immer so still?“

Linda behält das Lächeln auf ihren Lippen, so als hätte sie nur auf diese Gelegenheit gewartet und sagt amüsiert: „Ganz genau. Ich habe das lange geübt.“ Dann fügt sie mit einem freundschaftlichen Augenzwinkern hinzu: „Mit ein bisschen Übung solltest du das auch hinkriegen.“

Stillsein – eine kostbare Fähigkeit

In unserer Idealvorstellung reagiert Linda also überraschend anders als bisher auf die unsensible Bemerkung ihres sonst so wortbegabten Cousins. Statt zurückzuschlagen, rückt sie die Eigenschaft, über die er sich lustig macht, in ein anderes Licht. Linda hat das Stillsein sogar geübt. Damit kürt sie ihre zurückhaltende und leise Art zu einer ganz besonderen Fähigkeit. Linda steht souverän für sich und ihr ruhiges Naturell ein. Und als Krönung des Ganzen ermutigt sie ihren Cousin zum Abschluss mit einem optimistischen Augenzwinkern, dass er das mit ein bisschen Übung auch lernen kann.

Und unter uns gesagt: Vielleicht kommt Linda dann auch mal zu Wort 😊 Aber das ist eine andere Geschichte.

Herzlich
Ihre
Simone Fröch


Nachwort

Im realen Leben erreichen wir unsere lang ersehnten Vorstellungen vom Ideal-Ich und wie wir gerne sein möchten natürlich meistens nicht ganz so komplikationslos und von heute auf morgen wie Linda. Trotzdem sitze ich als Hoffnungsträgerin auf meinem Stuhl und spreche allen sensiblen Menschen Mut zu.

Neuropsychologische Untersuchungen unterstützen mich in meiner Zuversicht, weil sie uns zeigen, dass sich unser Gehirn und damit WIR uns ein Leben lang verändern und verwandeln können. Und aus Erfahrung weiß ich, dass sensible Menschen wachsen und ihre Fähigkeiten zur SELBSTverteidigung entwickeln können. Wenn es dafür auch viele, viele und oft auch mühselige kleine Schritte braucht. Dranbleiben lohnt sich. Und eine wohlwollende Begleitung kann Sie dann und wann inspirieren und stärken, auf Ihrem individuellen Weg zu mehr Freude und Leichtigkeit im Umgang mit anderen, oft weniger sensiblen Menschen.

Zu guter Letzt noch ein Link zu einer inspirierenden Erzählung: total gemein

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