7. Juni 2021
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Ist ja nur Müll?!

Jede*r von uns hat persönliche Vorlieben und Eigenheiten, die manchmal für Außenstehende nicht so einfach verständlich sind. Müssen wir uns deshalb anpassen?   

Müssen wir tun, was „man“ von uns erwartet? Uns selber „glattbügeln“, nur nirgends anecken oder Irritation erzeugen?

Ich denke, es wäre unglaublich schade um unsere Energie und die Vielfalt, die der Welt dadurch verloren ginge. Aber wie damit „durchkommen“ als Mensch, der die Reaktionen der anderen sensibel wahrnimmt? Hier eine Geschichte dazu:

Mathilda am Recyclinghof

Mathilda bringt den Müll der Woche auf den Recyclinghof. Sie wirft Papier in den Papiercontainer. Plastik in den Plastikcontainer. Hört Glas klirren. Metalldeckel scheppern. Da sieht sie aus dem Augenwinkel einen Müllaufsichtsmann auf sie zukommen. Sie fragt ihn, in welchen Container sie das Kartenspiel werfen muss und macht den Müllaufsichtsmann auf die Kunststoffbeschichtung der Karten aufmerksam. Woraufhin der Müllaufsichtsmann das Kartenspiel in seine Hände nimmt und sagt: „Das geben wir da rüber. Vielleicht mag das ja jemand.“ Mathilda schaut dem Müllaufsichtsmann nach, wie er sich mit dem Kartenspiel in der Hand Schritt für Schritt von ihr entfernt. Mag Mathilda, dass die Karten irgendwo hingebracht werden? Mag sie das nicht? Der nachgiebige Teil in ihrem Kopf setzt sich durch: „Ok.“

Dann geht sie zum Auto, nimmt die Schachtel vom Beifahrersitz und macht sich auf den Weg zum Papiercontainer. Sie nimmt ein Buch aus der Schachtel. Da kommt der Müllaufsichtsmann erneut auf sie zu und sagt: „Bücher können Sie da rüber ins Regal geben. Vielleicht mag sie ja jemand.“ Er deutet mit seiner Hand in eine Richtung. Mathilda schaut seiner Hand nach und erblickt ein abgenutztes Holzregal, in dem einige Bücher mit deutlichen Gebrauchsspuren stehen. Diesmal nutzt Mathilda die Gelegenheit und bleibt stark. Sie ringt kurz und zögert für einen Augenblick, dann sagt sie entschlossen: „Ich will das nicht. Ich will dieses Buch in den Altpapiercontainer schmeißen.“

„Ich will“

Naturliebhaber und Umweltökonomen denken jetzt vielleicht in Dimensionen der Nachhaltigkeit. Doch Mathilda geht es jetzt einfach einmal um das „Ich-will-Sagen“. Sie reagiert sensibel auf Grenzüberschreitungen. Gott sei Dank! Denn lange Zeit hat sie gar nicht gespürt, was sie will, sobald sie – sehr wohl – gespürt hat, was jemand anderer will. So schnell und spontan – wie automatisch – hat sie sich dem Wunsch und den Erwartungen der anderen angepasst. Sich gefügt. „Ja“ gesagt. Sich selbst dabei verbogen. Ihr Eigenes unterdrückt. Automatisch ausgespuckt was von ihr verlangt wurde. Als wäre sie ein Süßigkeitenautomat am Bahnhof, wo jemand auf den Knopf drückt, um den Snack seiner Wahl für die Pause zwischendurch gleich darauf aus dem Spenderfach zu holen.

Auf der Fahrt nach Hause freut sich Mathilda sehr darüber, was ihr da heute gelungen ist. In diesem freudigen Schwung dreht sie sogar spontan um und fährt nochmal zum Recyclinghof. Dort angekommen, steigt sie aus dem Auto, fragt, wo das Kartenspiel ist und holt es sich wieder. Und zwar erneut mit dem Satz: „Ich will es wieder haben.“

Gefühle wollen beachtet werden

Ständig über die eigene Grenze zu gehen tut weh, höhlt aus, ist ungesund. Ein ganz spezielles, oft schmerzhaftes, manchmal quälendes Gefühl stellt sich ein. Schwer zu ertragen. Jedenfalls unangenehm. Bei Mathilda hat dieses Gefühl im Laufe der Zeit immer lauter geschrien. Am Anfang wusste sie gar nicht so recht, was es bedeutet. Was es von ihr will. Wie sie mit ihm umgehen soll. Wie sie es für sich nutzen kann. Doch sie ist dabei, es Schritt für Schritt kennen zu lernen. Sie übt. Bleibt dran. Das Gefühl fordert (s)ein Recht ein. Es zwingt Mahtilda beinahe dazu, auf es zu hören, will sie sich ein gutes Gefühl bewahren.

Später macht sich Mathilda noch einige Gedanken über den Müllaufsichtsmann. „Er hat es bestimmt nicht böse gemeint“ denkt sie. „Ist womöglich vom Gedanken beseelt, die Dinge die ganz sind für andere aufzubewahren. Vielleicht tut es ihm weh zu sehen, was und wieviel weg geschmissen wird in der heutigen Zeit.“

Dennoch hat er in den Augen Mathildas ein paar Kommunikationsstufen übersprungen. Sie hätte gebraucht, dass er sie anschaut beim Reden und ihr damit Gelegenheit gibt, etwas zu seinem Vorhaben zu sagen. Ob sie nämlich damit einverstanden ist oder nicht. Überhaupt hätte sie sich gewünscht, dass er sie fragt, bevor er ihr das Spiel aus der Hand nimmt. Ihr die Wahl überlässt, was mit dem Spiel geschehen soll. Nicht einfach eigenmächtig darüber und über Mathilda hinweg bestimmt. Ihr das Recht auf Mit-Entscheidung einfach so entzieht. Auch wenn es „nur“ Müll ist. Es gehört ja „noch“ ihr.

Manch einer wird Mathildas Ärger, ihre Empörung und Enttäuschung runter spielen und verständnislos sagen: „Es ist doch nur Müll?!“ „Sie wollte es doch gerade wegschmeißen?!“ Damit spricht er Mathilda ihr Gefühl ab. Genau darum geht es aber. Genau das ist wichtig. Nämlich nützlich. Gefühle sind nützlich und wollen uns etwas Wichtiges zeigen. Sie wollen uns dienen. Wir haben die Aufgabe, immer besser zu erkennen, was sie uns sagen wollen. Sie kennen lernen und Schritt für Schritt aus und mit ihnen zu lernen. Fürs Leben. Für ein gutes Leben. Selbstbewusst sensibel. Sensibel selbstbewusst.

Mathilda erinnert sich an eine ähnliche Situation, unlängst, in der sie sich nicht durchgesetzt hat. In Gedanken spielt sie durch, was sie das nächste Mal in so einer Situation tun könnte.

Und Sie?

Gibt es etwas in Ihrem Leben, das Sie eigentlich ganz anders tun wollen, sich aber bisher nicht getraut und daher angepasst haben? Suchen Sie Wege, experimentieren Sie, sammeln Sie Erfahrungen. Vielleicht kann das eine oder andere gelingen …

Herzlich
Ihre
Simone Fröch

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