Elif hat sich letzte Woche mit einer Freundin getroffen. Als sie ihr von ihrer Migräneattacke am Wochenende erzählt hat, kam ein „Was du immer hast!“ Das gab Elif einen Moment einen Stich ins Herz, klang es doch etwas spöttisch. Doch dann flüsterte ihr eine innere Stimme wie aus einem Hinterstübchen:
„Sie hat es bestimmt nicht so gemeint. Außerdem hat sie schon Recht, du kannst einen wirklich sehr nerven mit deinem Jammern, tust so, als wärst du die Ärmste der Welt, nur weil du einmal Kopfweh hast. Was müssen andere alles aushalten, erdulden und ertragen. Da trefft ihr euch einmal, ist doch verständlich, dass deine Freundin da nicht gleich von deinem Kopfweh hören will. Sie ist ja immer so eingespannt und hat viel um die Ohren, also hat sie auch das Recht auf eine Freundin, die ihr den Nachmittag verschönert und für gute auflockernde Stimmung sorgt und nicht gleich wieder meckert. Du bist viel zu empfindlich.“
Solche inneren, gedanklichen Diskussionen kennt Elif schon allzu gut. Irgendwann ist ihr bewusst geworden, wie schnell sie jede Menge Erklärungen, Rechtfertigungen und Entschuldigungen für diejenigen hat, die sie verletzen. Wie sie das verletzende Verhalten damit verharmlost und dabei ganz übersieht wie es ihr in solchen Situationen eigentlich geht.
Warum ist das so und wieso akzeptieren Menschen wie Elif solche Kommentare und lassen sich alles gefallen?
Wir haben innerlich gute, sinnvolle Gründe!
Als Mensch möchten wir wahr- und angenommen werden. Es ist ganz natürlich, dass wir gemocht werden wollen. Aus der Gemeinschaft ausgeschlossen zu werden, macht uns Angst und deshalb tun wir alle viel, damit das nicht passiert. Darum ist es auch total normal, dass bei ungutem Verhalten von anderen folgende belastenden Gefühle oder Gedanken anspringen können. Meistens ist es eine Kombination aus diesen Dingen:
Angst
Das hat Elif bei sich im Coaching beispielsweise erkannt – Elif wurde plötzlich klar: sie hat Angst vor Ablehnung und davor, was passieren könnte, wenn sie jemandem Grenzen setzt – „Ich will das nicht.“ – konfrontiert: „Dein Verhalten ist nicht ok.“ – eine Ich-Botschaft schickt: „Das verletzt mich“. – oder wenn sie einen Wunsch äußert: „Ich brauch von dir jetzt …“. Dazu kommt: Je weniger man es gewöhnt bzw. geübt darin ist, desto größer ist die Unsicherheit und Angst vor Eskalationen oder unguten Reaktionen.
Sich wertlos fühlen
Je nachdem, wie wir es erlebt und erfahren haben (durch die Kindheit oder unser aktuelles Umfeld), ist es um unseren Selbstwert bestellt. Oft haben wir es richtiggehend in uns drinnen, sind wie darauf programmiert und kennen es gar nicht anders, als dass wir nicht mehr wert sind und dass wir keinen respektvollen, achtsamen Umgang verdient haben. Wenn dann noch mehr Gemeinheiten oder Herabwürdigungen kommen, nehmen wir es am Ende sogar noch als Bestätigung für innere Überzeugungen wie z.B. „Ich bin wertlos. Ich habe keine Rechte.“ hin.
Ein schlechtes Gewissen haben/Schuld bei sich suchen
Manche Menschen übernehmen instinktiv und reflexartig immer die Schuld oder den Schwarzen Peter: Es entsteht dann so etwas wie eine Illusion in ihnen: „Ich bin der Auslöser für das Verhalten des anderen, ich werde schon mit meinem Verhalten dazu beigetragen oder es provoziert haben.“ Und die Lösung wird so gleich mitgeliefert: „Ich brauche ja nur anders tun, dann behandelt der andere mich auch anders, nämlich besser.“ Das ist zwar ein Zeichen von hohem Verantwortungsbewusstsein und Gutherzigkeit – doch viel zu oft nutzen das andere aus. Schuld bewusst einem:r Unschuldigen zu geben ist gemeinerweise auch eine Taktik von Misshandler:innen und Narzisst:innen: „Wenn du dies und das nicht getan hättest, hätte ich nicht … Du bringst mich dazu.“ Viele glauben das dann auch spontan und unreflektiert. Doch näher betrachtet ist das ganz schön gemein. Und die Täter:innen schieben dadurch ihren Opfern die Verantwortung für ihre Gemeinheiten und Missetaten zu.
Eine ausgeprägte Empathie
Es ist eine sehr kostbare und wunderbare Eigenschaft, sich in andere einfühlen zu können, echtes Verständnis zu haben und nicht alles auf die Goldwaage zu legen. Es hilft, nicht alles persönlich zu nehmen, denn tatsächlich haben Menschen, die abrupt rücksichtslos oder gemein wirken, ihre Gründe dafür – und wenn es der buchstäbliche schlechte Tag ist, sie Probleme an anderen auslassen oder Kopfschmerzen haben. Allerdings sind besonders feinfühlige Menschen auch besonders verständnisvoll und dann ist die Empathie, die sie für andere aufbringen, manchmal besonders riesig, aber die eigenen Bedürfnisse und Gefühle zählen im Verhältnis dazu gar nichts mehr – oder nicht genug. Verständnis zu haben und nachfühlen zu können, ist ganz wunderbar und macht Mitmenschlichkeit aus. Es soll aber kein Freibrief für andere sein. Und es soll kein selbst auferlegter Zwang sein/werden, grenzenlose Empathie für andere aufzubringen, wenn es auf die eigenen Kosten geht – nämlich sich eigene Gefühle zu versagen oder keine eigenen Grenzen setzen zu dürfen.
Es so gelernt zu haben
Leider gibt es Menschen, die ständig schlecht behandelt werden. Und wenn wir immer irgendwie der Buhmann oder gar Fußabtreter waren, dann sind wir es mit der Zeit so gewöhnt. Ich meine damit kein „dickes Fell“, denn treffen tut es ja nach wie vor! Ich meine damit, dass wir manche leider mit der Zeit gar nichts anderes mehr erwarten, als eine schlechte Behandlung. Ist das Schlechte erst einmal „normal“ und „selbstverständlich“, dann setzt sich der Betroffene meist gar nicht mehr damit auseinander, geschweige denn kommt er auf die Idee, den anderen zu konfrontieren: Denn es ist schon immer so gewesen und es wird sich nicht ändern. Daher wird es hingenommen: „Die sind halt so/das Verhalten uns gegenüber ist halt so. Da kann man nix machen.“
Relativieren, weil es anders kaum auszuhalten wäre
Die Wahrheit zu sehen tut manchmal weh, erst recht, wenn das demütigende Verhalten von Menschen kommt, die uns nahestehen und die wir sehr lieb haben. Weil es also schwer auszuhalten ist, haben es sich manche als schmerzlinderndes Muster angeeignet, das verletzende Verhalten der anderen zu relativieren. Man denke nur an Partnerschaften, wo man von außen meint: „Wie lässt er oder sie mit sich umgehen!“ – oder an Gespräche zwischen Eltern und (erwachsenen) Kindern. Weil eine Beziehung, Abhängigkeit oder eine enge Bindung trotz allem da ist oder gewünscht wird, redet man sich das Verhalten des anderen „schön“ und verharmlost.
Ein hoher eigener Anspruch
Ich will noch mal betonen: Es ist sehr schön, einen hohen Anspruch an sich zu haben. Vielleicht hat sich Elif vorgenommen „ein guter Mensch zu sein“, will menschlich und respektvoll bleiben, vielleicht sogar „ein besserer Mensch, als der andere sein“ und sich nicht auf sein Niveau oder Verhalten begeben. Das ist ein guter Ansatz, darf aber nicht missverstanden werden und dazu führen, sich selbst immer hintanzustellen oder still alles hinzunehmen, vor allem wenn es um Verletzungen der eigenen Würde geht.
Wozu tendieren Sie und warum ist es so nachteilig für Sie?
Beobachten Sie sich selbst: Vielleicht kommen Ihnen gleich mehrere der genannten Gründe bekannt vor, warum Sie verharmlosen oder sich manchmal noch nicht genug für sich einsetzen. Je nach Situation und Gegenüber greift etwas mehr oder weniger.
In einem ersten Schritt kann es sehr wichtig sein, sich selbst einmal einfach nur zu verstehen. Doch genauso wichtig ist, sich klar zu machen:
„Wenn ich mir Gemeinheiten, Respekt- und Rücksichtslosigkeiten gefallen lasse, dann behandle ich mich selbst schlecht!“
Man verschont die anderen, was dann dazu führt, dass sie einen weiterhin so schlecht behandeln, weil man keine klare Grenze setzt.
Und bedenken Sie: Manchmal wissen andere gar nicht, was sie auslösen. Nicht jeder ist von Natur aus feinfühlig und empathisch. Solche Menschen wollen und brauchen Feedback. Das gehört zu einer aktiven Gestaltung einer Beziehung dazu und lässt im besten Fall alle Beteiligten wachsen.
Herzlich
Ihre
Simone Fröch